Mit einem Löwen im Nacken streikt der Darm
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Mit einem Löwen im Nacken streikt der Darm

Funktionelle Verdauungsbeschwerden sind so vielfältig wie unangenehm und können praktisch jeden Bereich betreffen: vom sprichwörtlichen „Knödel im Hals“, über Sodbrennen, Magenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen bis zu Durchfall, Blähungen, Verstopfung und Entleerungsstörungen. Viele dieser Symptome treten auch kombiniert auf. Die prominentesten Vertreter der funktionellen-Magen-Darm-Erkrankungen sind Reizdarm und Reizmagen.

Wer damit zu kämpfen hat, ist nicht allein: Studien zufolge leiden 40 % der Weltbevölkerung an funktionellen Verdauungsbeschwerden – in westlichen Ländern genauso wie beispielsweise in Bangladesch.

Wenn der Stress in die Wiege gelegt wird

Daneben haben die Beschwerden noch eines gemeinsam: bei herkömmlichen Untersuchungen wird keine Ursache gefunden, wie Dr. Elisabeth Schartner, Darmexpertin und Autorin des Ratgebers „So klappt's mit der Verdauung“ (siehe Infobox) betont. „Es gibt aber klare Hinweise, dass Menschen, die einen schlechten Umgang mit Stress gelernt haben oder in der Kindheit unter schlechten Bedingungen aufgewachsen sind, eher zu funktionellen Verdauungsbeschwerden neigen“, erklärt Dr. Schartner.

Ein Schutzmechanismus, der belasten kann

Eine wichtige Rolle spielt auch unser „unwillkürliches Nervensystem“. Dieses steuert körperliche Abläufe (u. a. Atmung und Stoffwechsel), die vom Menschen nicht direkt beeinflusst werden können. Dabei spielen zwei Hauptfaktoren zusammen: der Parasympathikus, auch „Ruhenerv“ genannt, der bei Entspannung aktiviert wird, und der Sympathikus, der sich bei Stress meldet.

„Generell geht eine gesunde Verdauung eher mit einer erhöhten Parasympathikus-Aktivität einher“, erklärt Dr. Schartner. „Wenn wir – bildhaft gesprochen – von einem Löwen verfolgt werden, dann hat der Körper in dieser Stresssituation Wichtigeres zu tun als zu verdauen.“ In derart bedrohlichen, beängstigenden und/oder herausfordernden Situationen aktiviert sich der Sympathikus. Ein wichtiger, überlebensnotwendiger Reflex des Körpers. Wenn der Stress allerdings zu lange oder zu intensiv auf uns einwirkt, kann dies zu Verdauungsstörungen führen.

Einen Einfluss hat aber auch das Immunsystem, wie Dr. Schartner schildert: „Der Darm ist unsere größte Kontaktfläche zur Außenwelt – nicht die Haut, wie oft angenommen – und unser Essen ist nicht keimfrei. Es sind extrem komplizierte Vorgänge nötig, damit der Körper auf das Fremdeiweiß aus unserer Nahrung nicht reagiert und gleichzeitig Krankheitserreger abwehren kann.“

Reizdarm(flora)

Auch die Darmflora, also die Darmbakterien, beeinflusst die Verdauung. „In experimentellen Studien wurde festgestellt, dass sich die Darmflora bei Reizdarmsyndrom-Patientinnen und -Patienten von jener bei Gesunden unterscheidet. Die Betroffenen haben oft auch mehr Immunzellen auf der Schleimhaut und das Gehirn reagiert anders auf Dehnungsreize im Darm“, so Dr. Schartner. Doch mit den Standarduntersuchungen sind diese Veränderungen nicht feststellbar – deswegen erfolgt die Diagnose Reizdarmsyndrom erst, wenn andere Gründe ausgeschlossen werden können.

Wie der Bauch wieder zur Ruhe kommt

Die Verdauung ist also ein hochkomplexer Prozess, in dem neben den genannten Faktoren noch viele weitere mitspielen. Im Idealfall bemerken wir jedoch kaum etwas davon.

Funktioniert die Verdauung nicht mehr so wie sie soll, dann können mehrere Therapien versucht werden: „Es stehen einige sehr gute Medikamente zur Verfügung, die viele Betroffene leider oft gar nicht kennen“, erzählt Dr. Schartner und verweist beispielsweise auf zuverlässige Mittel gegen Durchfall.

Helfen können auch Entspannungs- und Atemtechniken. Es gibt Hinweise, dass Ausdauertraining funktionelle Verdauungsbeschwerden lindern kann. Naheliegenderweise sollte die Ernährung gemeinsam mit einer/einen Diätologin/Diätologen betrachtet werden. „Oft lassen Betroffene unglaublich viele Lebensmittel weg. Einige rutschen dadurch in eine Essstörung“, so Dr. Schartner. „Bei der Ernährung ist es wichtig herauszufinden, was wirklich nicht vertragen wird – und sich dann trotzdem möglichst breit gefächert und regelmäßig zu ernähren.“

Foto: Silvia - Pixabay

Bauchhypnose als Hilfe zur Selbsthilfe

Eine Methode, auf die zwei von drei Betroffenen gut und langanhaltend ansprechen, ist die Bauchhypnose. Dr. Schartner bietet diese in ihrer Praxis an. Dabei erlernen die Patientinnen und Patienten in der Gruppe eine geführte Selbsthypnose, die sie auch zuhause weiterüben müssen. Die Betroffenen versetzen sich dabei in einen natürlichen Trancezustand – vergleichbar mit den Momenten, in dem uns ein Film ganz in seinen Bann zieht oder wir in ein Buch oder Hobby vertieft sind. Die Bauchhypnose eignet sich besonders bei Reizdarm und -magen, kann jedoch auch bei Brustschmerzen oder bei immer wieder auftretenden Episoden mit Übelkeit und Erbrechen angewendet werden.

Höre auf deinen Bauch

„Wir sollten versuchen, wieder ein bisschen mehr auf unser Bauchgefühl zu hören“, ergänzt Dr. Schartner. „Manchmal müssen wir unser Leben grundlegend überdenken: Welche Situationen, Aktivitäten und Personen tun mir gut – und welche nicht?“

Sie plädiert auch dafür, funktionelle Verdauungsbeschwerden umfassender zu verstehen. „Generell ist bei diesen eine ‘kleine Psychotherapie’ immer sinnvoll“, so Dr. Schartner. Sich also mit den Zusammenhängen vertraut zu machen. Denn, so die Darmexpertin, „unser ganzer Körper reagiert auf die Außenwelt, sonst wären wir Menschen auch schon längst ausgestorben“.

Wohin bei Beschwerden?

Bei funktionellen Verdauungsbeschwerden sind Allgemeinmediziner*innen die erste Anlaufstelle. Viele Symptome können medikamentös gelindert werden. In einigen Fällen ist auch eine Abklärung bei Gastroenterologinnen und Gastroenterologen nötig, um andere Erkrankungen auszuschließen. Das Partnerkrankenhaus Barmherzige Schwestern Wien bietet außerdem eine Ambulanz für Betroffene, die am Reizdarmsyndrom leiden.

Buchtipp

Dr. Elisabeth Schartner hat einen Ratgeber zu funktionellen Verdauungsbeschwerden geschrieben: So klappt's mit der Verdauung ist im März 2023 beim Verlag Springer Berlin erschienen.

Das Reizdarmsyndrom ist sozial „vererbbar“

Das soziale Lernen hat vermutlich mehr Einfluss auf das Entstehen eines Reizdarms als die Gene. Das belegt eine Studie mit Zwillingen, die getrennt voneinander aufgewachsen sind. Der Umgang der Bezugsperson mit Stress wirkte sich direkt auf die Kinder aus.


Autor
Redaktion Gesundheitspark
Veröffentlichungsdatum
29.06.2023
Foto: Glen Carrie - Unsplash

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